Volksschule im Kanton Zürich

: Priester der Volksbildung. Der Professionalisierungsprozess der Zürcher Volksschullehrkräfte zwischen 1770 und 1914. Zürich 2007 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-0799-3 576 S.

: Schule macht Geschichte. 175 Jahre Volksschule im Kanton Zürich 1832–2007. . Zürich 2007 : Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, ISBN -

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Brändli

Die Geschichtsschreibung über Schule und Bildung ist zweigeteilt. Einerseits ist es die historische Bildungsforschung, die als Teil der pädagogischen Wissenschaften sich historisch mit Lehren und Lernen – und insbesondere auch mit Bildungsinstitutionen – auseinandersetzt, anderseits beschäftigt sich auch die Geschichtswissenschaft, und da insbesondere die Sozial- und die Kulturgeschichte, mit den sozialen Prozessen, die das moderne Bildungswesen hervorgebracht haben. Dabei hat sich eine gewisse Arbeitsteilung herausgebildet. Während sich die pädagogische Seite stärker mit den Bildungsideen, den Curricula und den Institutionen auseinandersetzt, stehen der Sozialgeschichte stärker die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie die institutionellen Settings – einzeln oder vergleichend – im Vordergrund. Sinnvoll wäre es, wenn die beiden Teildisziplinen stärker kooperierten.

Ganz dem Typus Sozialgeschichte verpflichtet ist die Dissertation von Alexandra Bloch, die den Professionalisierungsprozess der Zürcher Volksschullehrkräfte zwischen 1770 und 1914 – sozusagen in einem ‘sehr langen Jahrhundert’ – nachzeichnet und unter den Prämissen der Professionalisierungstheorie in ihrer Entwicklung erklärt. Dabei hat der historische Gegenstand im Rahmen vergleichender europäischer Sozialgeschichte eine besondere Stellung, waren die Zürcher Bildungsverhältnisse in ihrer Zeit doch stets innovativ und wirkungsvoll. Das begann schon bei den reformatorischen Bemühungen und galt dann vor allem für das zentrale historische Ereignis, für die Begründung der modernen Volksschule durch den regenerierten Kanton im Jahre 1832. Für die anderen Kantone war Zürich in der Frühen Neuzeit häufig – wenn nicht Trendsetter, so doch – Orientierungspunkt für die eigene Entwicklung.

Der Startpunkt der Analyse interessiert besonders. Das aufgeklärte Stadtbürgertum – worunter federführend die Pfarrer – gelangte um 1770 zur Auffassung, für die Bildung der Landeskinder – rechtlich: Untertanen – sei ein Mehreres zu leisten. Zu diesem Zwecke wurde sofort praktisches Wissen geboren und eine «Anleitung» zuhanden der Dorfschulmeister entworfen. Zum Andern wollte man mehr über die Bildungsverhältnisse erfahren und startete eine Umfrage – eine Enquête –, deren Resultate Bloch erstmals umfassend wissenschaftlich auswertet. Diese waren ernüchternd und zeigten massiven Verbesserungsbedarf. Als politisches Ergebnis konnte der Zürcher Rat 1778 zum Erlass einer neuen «Landschulverordnung» gebracht werden, deren direkte Wirkung allerdings bis heute umstritten ist. Den nächsten grösseren Entwicklungsschritt durchlief die Volksschule dann im Rahmen der totalen Neuorganisation der 1830er Jahre, deren Jubiläum der Kanton mit Bezug auf das Gesetz des Jahres 1832 soeben gefeiert hat. Diese Umwälzungen haben in organisatorischer, personeller und vor allem auch finanzieller Hinsicht entscheidende Neuerungen gebracht. Die Lehrkräfte, die um 1770 noch im finanziell kaum entschädigten Nebenamt Schule in ihrer überfüllten Stube hielten, wurden seit jenen Innovationen zu Professionellen, die im Anschluss an eine anforderungsreiche Berufsausbildung in «Bildungspalästen» – jedenfalls in den schönsten Steinhäusern der Landschaft – einen geregelten disziplinierten Unterricht halten konnten.

Alexandra Bloch zeichnet die Entwicklungen minutiös nach. Die umfangreiche Studie ist theoriegeleitet und quellennah gleichzeitig und verdient viele Leserinnen und Leser. Die Frage, ob die Berufsgruppe bis 1914 «eine idealtypische Professionalisierung» erreichte, wird dabei gestellt und verneint (S. 534). Es ist zu fragen, ob diese Antwort das Thema abschliessen kann. Bekannt ist, und auch wahr, dass die Lehrerschaft – nicht nur in Zürich, sondern auch anderswo – die von der Professionalisierungstheorie gemeinhin geforderte, vom Idealbild der medizinischen Profession abgeleitete Handvoll Kriterien in zweierlei Hinsicht entscheidend nicht erfüllt: Weder das der Profession allein zugängliche «geheime» Spezialwissen, das in der Regel nur mit einer akademischen Ausbildung erworben wird, noch die berufliche Selbständigkeit wurden Tatsache, woraus die berühmte Formel des «Semi-Professionalismus» entstand. Diese Lagebeschreibung trifft auch für die Zürcher Lehrkräfte zu, wobei das Nein des Souveräns im Jahre 1872 zum neuen Unterrichtsgesetz, das das Streben nach akademischer Lehrerbildung blockierte, besonders instruktiv ist. Dennoch bleibt die Frage, ob nicht auch für die Volksschullehrer eine «vollständige», wenn auch andersgeartete Professionalisierung belegt werden kann. Im Rahmen von Bürokratisierung moderner Staatlichkeit bzw. staatlicher Leistungserbringen sind auch schon im untersuchten Zeitraum Prozesse festzustellen, bei denen es Sinn macht, sie als Professionalisierung im Rahmen eines revidierten bzw. erweiterten Professionalisierungsbegriffs zu fassen: Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes verfolgten als Kader und Fachkräfte Professionalisierungsstrategien, welchen sich die Lehrkräfte – spätestens seit der Gründung des Lehrervereins 1893 – auch explizit anschlossen.

Die zweite Arbeit ist die Jubiläumsschrift aus Anlass der 175-jährigen Geschichte der Zürcher Volksschule, die im Jahre 2007 gefeiert wurde. Der sehr schön aufgemachte und reich illustrierte Band ist aber nicht einfach Hagiographie einer gefeierten Institution, sondern über weite Strecken wissenschaftliche Analyse und Darstellung. Dabei steht für einmal neben der Darstellung der Gründungssituation auch ein Längsschnitt über die ganze Wirkungszeit. In einer raffinierten Kombination von Zeit und Raum werden die historischen Epochen mit den kantonalen Regionen in Verbindung gebracht. Einzelne wichtige historische Stationen werden zudem durch spezielle Texte herausgehoben, die auch graphisch von der übrigen Darstellung abgehoben sind. So werden neben dem bekannten, immer wieder als Kronzeuge dargestellten helvetischen Erziehungsminister Stapfer auch weniger bekannte Figuren wie Ignaz Thomas Scherr, Promotor der neuen Volksschule und erster Direktor des Lehrerseminars von Küsnacht, sowie Friedrich Zollinger, Erziehungssekretär und Schulreformer (1858–1931), porträtiert. Viele thematische Schwerpunkte der Volksschulentwicklung werden – teils erstmals – im grösseren Zusammenhang dargestellt, so etwa die Problematik der Lehrerlöhne, die Gründung des Lehrmittelverlags, die Geschichte der Privatschulen aus staatlicher Sicht, die «Ferienkolonien» und vieles mehr. Die Geschichte wird nicht nur bis in die Gegenwart geführt (neueste Entwicklung der Lehrerbildung, Erarbeitung des geltenden Lehrplanes, die Herausforderung durch PISA etc.), sondern in einem Interview mit der amtierenden Bildungsdirektorin wird auch ein Ausblick in die Zukunft gewagt. Der gewichtige und umfassende Band stellt als Übersichtswerk eine gelungene Verbindung von inhaltlicher und struktureller Entwicklung der Volksschule dar. Es ist eine gerissene Umsetzung seines Titels: Schule macht Geschichte!

Zitierweise:
Sebastian Brändli: Rezension zu: Alexandra Bloch Pfister: Priester der Volksbildung. Der Professionalisierungsprozess der Zürcher Volksschullehrkräfte zwischen 1770 und 1914. Zürich, Chronos, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, S. 103-105.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, S. 103-105.

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